Kultur des Seins und der Achtsamkeit

„Die Produktion hat der Erfüllung der wahren Bedürfnisse des Menschen und nicht den Erfordernissen der Wirtschaft zu dienen.“

Erich Fromm  – dt. Sozialpsychologe des 20. Jahrhunderts

Was deutlicher zutage tritt denn ja, ist die Absurdität einer Kultur, die nur noch auf materielles Wachstum ausgerichtet ist. Immer mehr Menschen werden sich bewusst, dass der Hype um das neue iPhone, das 53igste paar Schuhe oder der 12te Herbstpullover, der neue Audi oder eine noch raffiniertere Elektronik unsere Lebensqualität und innere Zufriedenheit nicht wirklich verbessern werden.  Die Anzahl der Optionen des Warenangebotes mag zwar immer noch steigerungsfähig sein, und die Werbung versucht auf raffiniertere Art und Weise, uns die brandneuen Produkte des Kosumparadieses schmackhaft zu machen, aber die Unsinnigkeit dieses Spiels wird, je bewusster jemand wird, umso transparenter und verfehlt ihre Wirkung.

„Ich bin arbeitswütig und liebe den Streß. In der Bademodeabteilung eines Münchener Kaufhauses bin ich zusammengebrochen, weil es dort so ruhig war.“  Elke Heidenreich  dt. Autorin u. Moderatorin

Lebensmittelskandale, Eurokrise, Klimaveränderung, Globalisierungsängste und ein wachsendes Bewusstsein, dass globale Ressourcen endlich sind, lassen Menschen zunehmend an der Zukunftsfähigkeit dieser Art des Lebens und Wirtschaftens zweifeln. Zudem machen viele der Tätigkeiten innerhalb dieses Verschleiss-Systems nicht mehr wirklich Sinn. Wir üben sie noch aus, um unser Überleben zu sichern, aber immer weniger sind noch überzeugt von dem, was sie da jeden Tag tun. Umsatzsteigerung, Wachstumssteigerung, Steigerung der Marktanteile, Übertreffen des Vorjahresergebnisses, Steigerung der Zielvorgaben, alles muss ständig gesteigert werden, wozu und für wen? Die Maschine am Laufen zu halten ist wie ziel- und orientierungslos in der Gegend herum zu fahren. Längst ist die Steigerung von Gewinnen und Vorgaben zum Selbstzweck geworden, die selten hinterfragt wird, außer von denjenigen, die diese Steigerung als täglichen Leistungsdruck erleben. Die Daten über eine stetig wachsende Anzahl von Menschen mit Stress- oder Burnout-Symptomen sprechen eine deutliche Sprache.  Schaut man hinter die Kulissen dieser Steigerungskultur und fragt sich, wie wollen wir eigentlich leben, wird deutlich, dass uns irgendwie die Alternativen abhanden gekommen sind.  Einerseits wollen die meisten von uns nicht wirklich auf die Annehmlichkeiten dieses Systems verzichten, andrerseits leiden wir daran, einer sinnentleerten Aktivität  nachgehen zu müssen, die das Dogma des permanenten Wachstums propagiert und oft schonungslos einfordert.

„Niemand kann in ständiger Rastlosigkeit überleben.“ John O`Donohue – irischer Dichter

Wenn wir uns für einen Augenblick ausserhalb der Geschichte stellen und versuchen die Langzeitprozesse zu erfassen, die das Denken beeinflussen, erscheint es wie die Geburtswehen einer sich auf neue Werte besinnenden Kultur. Erich Fromm, einer der grossen Sozialpsychologen des 20. Jahrhunderts, hatte eine mögliche Entwicklung in seinem Dreistufenmodell dargestellt. In der ersten Stufe geht es hauptsächlich ums Haben. Wir sehen diese erste Stufe deutlich, wenn wir nach China oder nach Russland schauen. Die neue, superreiche Elite und wie man möglichst rasch zu ihr gehören kann, beherrscht das Denken der Masse. Die Wachstumseuphorie, die wir in den 60iger und 70iger Jahren hier erlebten, war eine ähnliche Phase. Nach dem Haben trat dann in den 80iger Jahren das Tun in den Vordergrund. „ Haben“ war zwar immer noch sehr wichtig, aber zunehmend profiliert sich der Einzelne in den letzten 25 Jahren über seine Tätigkeit und nicht  so sehr über das Haben.  Die berufliche Position, das Entfaltungs- und Entscheidungsspektrum der Tätigkeit, nimmt an Bedeutung zu. Haben alleine reicht nicht aus, ausser für die Boulevardpresse. Aber auch das Image des supereffizienten Tuns bröckelt zunehmend. Deutlich wird das am Imageverlust solcher Figuren wie Ackermann, ehemals Vorstand der deutschen Bank, oder am Selbstmord des CEO des Schweizer Swisscomkonzerns. Was da als Spitze des Eisberges sichtbar wird, ist der Übergang zu einer Kultur des Seins, in der es vermehrt um ein Ankommen und Innehalten geht, statt um die nächste Spirale des Habens oder Tuns.

Das Problem mit dem Sein allerdings ist, dass es die meisten Menschen nicht gut aushalten, anzukommen oder einfach nur zu sein, ausser als vorrübergehende Pause vom ständigen Tun. Wir nennen es dann „Ferien“ oder „Freizeit“. Grund dafür ist, dass wir keine gesellschaftlichen Modelle oder Vorbilder dafür haben, wie das Leben ausschauen könnten, wenn es aus dem Sein heraus erfolgt. Wir finden in der Gesellschaft und in den Medien fast ausschließlich Befürworter eines ständigen Aktionismus. Wer sich im Sein aufhält, scheint asozial, ein fauler Hund zu sein. Es wird angenommen, dass ein Leben aus dem Sein grundsätzlich passiv ist. Dabei ist ein Ankommen im Sein eine notwendige Voraussetzung dafür, dass wichtige menschliche Fähigkeiten sich überhaupt entfalten können. Erst wenn wir vom inneren Getriebensein entlastet sind, offenbaren sich unsere besten Eigenschaften: Sensibilität, Mitgefühl, Offenheit, Hilfsbereitschaft oder Freundlichkeit. Joachim Bauer, der Frankfurter Neurologe,  erklärt in seinem Buch „Menschlichkeit“, wie unsere neuronalen Spiegelzellen, die für das Sozialverhalten so wichtig sind,  unter Stress abgestellt werden; d.h. unter Druck verhalten wir uns meist asozial bis hin zur Selbstzerstörung.  Das heisst, Handlungsimpulse, die aus dem Sein kommen, scheinen eine andere Qualität zu besitzen, als solche, die aus dem Getriebensein entstehen.

Doch erst dann, wenn wir uns im Sein „eingerichtet“ haben, wenn wir in der „inneren Mitte“ angekommen sind, lernen wir zwischen solchen Impulsen zu unterscheiden, die aus dem „inneren Druck“ und solchen, die aus der „inneren Mitte“ heraus entstehen. Letztere tragen eine andere Signatur und strahlen harmonisch auf unser Umfeld ab. Das Tun entsteht nun aus dem Sein, der Handlungsimpuls kommt aus einer tieferen Schicht des Menschen. Ob wir diese Schicht Wesen, Seele, Essenz, Höheres Selbst, Intuition oder anders nennen, spielt keine Rolle. Jede Kultur hat einen eigenen Begriff für diese Qualität. Durch die Tatsache, dass wir im Sein kollektiv miteinander verbunden sind, stärkt das Tun, das aus ihm entspringt, unsere Verbundenheit, sodass wir uns automatisch harmonischer und sozialer verhalten.

Achten Sie vermehrt darauf, wie sie sich fühlen und welche Qualität der Handlungsimpuls hat, der in Ihr Bewusstsein drängt. Kommt er aus dem Getriebensein, lassen sie ihn ziehen und beachten Sie ihn nicht weiter. Kommt er aus der inneren Ruhe, aus den Tiefen Ihres Seins, können sie ihm getrost folgen. Er führt Sie automatisch zur besten Lösung.