Wir schauen nicht genau hin, hören nicht ganz genau zu. Wir lassen den Augenblick nicht tief genug in uns hinein, sondern erdenken uns den Weg durchs Leben; deswegen sind wir oft getrieben oder latent unzufrieden. Wenn wir unseren Weg durchs Leben erspüren, von Moment zu Moment, werden wir wieder lebendig sein, wie in der Zeit, als wir Kind waren. Da haben wir nicht gedacht, dass irgendetwas an uns nicht richtig wäre. Da waren wir tief im Augenblick des Spiels versunken. Dann hat man uns gesagt, wir sollen aufhören zu träumen, müssten vernünftig sein, obwohl es die Welt nie war und nie sein wird. Wenn wir beginnen unsere Gedanken loszulassen und sie nicht mehr als real zu betrachten, sind wir frei. Dann haben wir das Wichtigste erkannt, das notwendig ist, um alle Anhaftungen zu überwinden. So werden wir automatisch mehr und mehr zu dem, was wir in unserer Essenz sind. Der unverfälschte, natürliche Zustand des Seins wird zur Quelle unserer Erkenntnis und Lebendigkeit. Dann entdecken wir die natürlichen Qualitäten des transpersonalen Selbst:
• Mitgefühl für alles, was existiert.
• Tiefe Zufriedenheit als unsere innerste Natur.
• Jeden Augenblick vollständig annehmen und wieder loslassen zu können.
• Die Weite und Ekstase des universalen Bewusstseins, welches alles durchströmt und aus einer großen Stille heraus die Kreation des Lebens betrachtet.
Das Leben wird tiefer, je achtsamer wir sind. Doch die Tiefendimension der Achtsamkeit ist kein intellektuelles Konzept, sie entsteht aus der Transformation des ganzen Seins. Achtsamkeit stellt sich nicht ein, wenn wir uns bemühen, sondern wenn wir der Realität nackt und unschuldig begegnen. Als der Dichter Rainer Maria Rilke in einer depressiven Krise war, begegnete er dem französischen Bildhauer Auguste Rodin. Der erkannte, dass Rilke, ein damals noch junger Dichter, in einer Depression feststeckte. Er brachte nichts zustande, saß tagelang vor einem leeren Blatt Papier, obwohl er eine Biographie über Rodin schreiben wollte. Rodin schickte ihn in den Pariser Zoo mit der Aufgabe, sich irgendein Tier auszusuchen und für Tage nichts anderes zu tun, als es zu betrachten. Rilke suchte sich einen Panther aus, der in einem kleinen, eisernen Käfig gefangen war, endlos auf engstem Raum hin und her lief. Der Panther war das Symbol für Rilkes inneren Zustand in dieser Zeit. Er fühlte sich eingesperrt, blockiert im Gefängnis seines Ichs. Indem er diesem Zustand nicht auswich, sondern mit intensivster Achtsamkeit betrachtete, überwand er seine Depression und schuf eines seiner berühmtesten Gedichte:
Der Panther
„Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden,
dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf -.
Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.“
Rilke beschreibt hier das große archetypische Drama des Menschseins. Von einer Mutter erzogen, die ihn in den ersten 10 Jahren seines Lebens zum Mädchen machen wollte, von einem Vater anschliessend gezwungen, eine preußische Militärakademie zu besuchen, erlebte er die komplette Leugnung seiner ureigenen Natur. Er schaffte es, diese tiefe Spaltung dadurch zu heilen, dass er sie in seinen Gedichten zum Ausdruck brachte. Wenn wir etwas tief anschauen, löst es sich auf. Dogen Zenji beschreibt diesen Prozess des Sich-Findens und Sich-Vergessens wie folgt: „Den Buddha-Weg ergründen heißt, sich selbst ergründen. Sich selbst ergründen heißt, sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen heißt, eins mit den zehntausend Dingen sein. Das ist Erleuchtung.“ Dogen Zenji – jap. Zen Mönch des 13. Jahrhunderts
Dieses scheinbare Paradox der Selbstfindung und des Selbstvergessens offenbart sich oft in den fortgeschrittenen Phasen der Bewusstseinsentwicklung: Die Leerheit und Nicht-Dauerhaftigkeit allen Seins. Sobald wir die Dinge mit einer tiefen Aufmerksamkeit betrachten, erkennen wir ihre Substanzlosigkeit. Gedanken werden als das wahrgenommen, was sie wirklich sind: Interpretationen, Deutungen, Symbole, mit denen wir versuchen uns die Welt zu erklären. Sobald wir in jedem Augenblick, dem was ist, mit tiefer Aufmerksamkeit begegnen, es annehmen, ohne Widerstand, es intensiv betrachten und zulassen, fängt es an, sich zu verändern, und die nächste Phase des Lebens kann beginnen.
Die Griechen nannten diesen natürlichen Wachstumsprozess des Lebens Enantiadromia, die Verkehrung ins Gegenteil. Aus Krankheit wird Heilung, aus Niederlage Erfolg, aus Trennung entsteht Einheit. Wenn wir das ständige (Nach-)Denken aufgeben, seine Vergeblichkeit erkennen, offenbart sich eine Tiefendimension des Lebens, in der jeder Augenblick sich selbst genügt. Die Disziplin der tiefen Aufmerksamkeit führt zu Achtsamkeit. Unser natürliches Wesen offenbart sich, je achtsamer wir sind. Dafür ist jeder Augenblick geeignet, auch jetzt. Unsere Identität hängt dann nicht mehr an irgendwelchen Überzeugungen, Ängsten, Wünschen oder Sorgen, sondern wir fließen mit tiefer Achtsamkeit durch die Zeit. So entsteht eine immer intimere Begegnung mit der Wirklichkeit, mit der Magie des Lebens. Wesentliches wird mühelos erkannt, Unwesentliches fällt einfach ab.
Ich danke Ihnen für diesen Moment der Achtsamkeit.